Wing Chun
Wing Chun (chin. 咏春/詠春 „schöner Frühling“) ist ein (süd-) chinesischer Kampfkunststil (in China mit dem Oberbegriff Wushu, im Westen mit dem Begriff Kung Fu bezeichnet).
Gelehrt wird Wing Chun in Deutschland, Österreich und der Schweiz in zahlreichen kommerziellen und nicht-kommerziellen Schulen, Verbänden und Vereinen. Der Name der Kampfkunst stammt aus dem Kantonesischen, deswegen gibt es keine eindeutige Romanisierung des Begriffes. Aus markenrechtlichen Gründen und um sich von anderen Schulen und Verbänden abzugrenzen (siehe weiter unten), sind zahlreiche Schreibweisen gebräuchlich, so z.B. Wing Tsun (W.T.), Ving Tsun (V.T.), Wing Tzun, Wing Chung, Wing Shun, Wing Tsung, Ving Chung, Weng Chun, Wyng Tjun, aber auch gänzlich andere Namen, wie z.B. Taonamics oder Tao Concepts.
In Pinyin, dem offiziell verwendeten Romanisierungssystem des Hochchinesischen (Mandarin), werden die Schriftzeichen als Yǒng chūn transkribiert.
Inhaltsverzeichnis
1. Techniken
2. Prinzipien
3. Berücksichtigung anderer Kampfsysteme
4. Neuere Geschichte
5. Kritik am Verbandswesen
6. Formen
7. Unterricht und Training
1. Techniken
Im Wing Chun wurden alle Techniken auf ihre Wirkung hin maximiert. Die Bewegungen sind meist kurz und gerade (i.S. entlang einer Geraden). In der Regel wird keine starre Muskelkraft, sondern die Elastizität des eigenen Bewegungsapparates ausgenutzt. Dies geschieht durch eine Kombination aus Gewichtsverlagerung (Schritttechniken) und spontaner schneller Streckbewegung (Peitschenkraft) mit einem relativ kleinen Anteil eigener Muskelkraft.
Ein typisches Element einiger Wing-Chun-Stile ist der Kettenfauststoß. Man sagt, ein geübter Wing-Chun-Kämpfer könne davon ca. 8-10 Schläge pro Sekunde ausführen. Darüber hinaus entfalten alle Techniken erst in der Kombination miteinander ihre volle Wirkung, wobei es letztlich unerheblich ist, ob Fauststöße oder Handflächenschläge zum Einsatz kommen. Die Kraft des Gegners wird durch Schritttechniken, wie Wendungen, neutralisiert und gegen ihn verwendet (Gleichzeitigkeit von Angriff und Abwehr): Der Angriff ist die Verteidigung. Ein Schlag des Gegners wird so z.B. durch einen konternden Gegenschlag abgewehrt.
Der Stil ist weiterhin durch seine Trittarbeit charakterisiert, die nur sehr wenige Grundtritte umfasst und mit der im Allgemeinen nur niedrige Ziele bis etwa zur Höhe der Hüfte angegriffen werden. Ein Ziel dieser Tritte sind insbesondere Kniegelenk, Oberschenkelansatz und Unterleib des Gegners.
2. Prinzipien
Eine besondere Charakteristik von Wing Chun ist das Denken in Prinzipien. Man könnte sie auch als Weisungen oder Orientierungshilfen bezeichnen. Diese Prinzipien sind bewusst in der reflexiven Befehlsform formuliert, so dass klar definiert ist, was zu tun ist. Ein entscheidender Vorteil ist die Allgemeinheit, Allgemeingültigkeit und Übertragbarkeit der Prinzipien. Beachtet ein Schüler die Prinzipien, so verhält er sich auch in vollkommen unbekannten Situationen korrekt bzw. macht im Normalfall zumindest keine gravierenden Fehler.
Die hier aufgeführten Prinzipien stellen eine kleine, beispielhafte Auswahl dar, wie sie in unterschiedlichen Wing-Chun-Stilen vorkommen können. Die Prinzipien variieren von Stil zu Stil mitunter sehr stark. Im Wing Tsun und dessen Derivaten z.B. lehrt man folgende Prinzipien:
Die Kraftprinzipien:
- Befreie dich von deiner eigenen Kraft.
- Befreie dich von der Kraft deines Gegners.
- Nutze die Kraft des Gegners.
- Füge deine eigene Kraft hinzu.
Die Kampfprinzipien:
- Ist der Weg frei, stoß vor.
- Bekommst du Kontakt, bleib kleben.
- Ist der Gegner zu stark, weiche aus.
- Weicht der Gegner zurück, folge.
Dies sind nur einige Beispiele von sogenannten Kuen Kuits.
3. Berücksichtigung anderer Kampfsysteme
Bei einem Wing-Chun-Kämpfer ist es nicht von Bedeutung, welchen Stil der Aggressor hat: Ein Straßenkämpfer, welcher keinen bekannten Kampfstil hat, bzw. seinen eigenen freien Kampfstil entwickelt hat, ist von den potentiellen Aggressoren am gefährlichsten einzustufen. Daher lernt der Kämpfer im Wing Chun, sich so vor dem Angreifer zu positionieren, dass alle möglichen Angriffsvarianten des Gegners im Vorfeld schon gestört werden: Man versucht, möglichst früh mit dem Aggressor Kontakt aufzunehmen. Im Chi-Sao-Training lernen die Schüler, die Kraft des Angreifers zu „erfühlen“ und dementsprechend zu reagieren, um möglichst wenig darauf angewiesen zu sein, Angriffe optisch zu erkennen. Dabei befolgt er die Regeln der vier Kampf- und Kraftprinzipien (siehe oben).
4. Geschichte
Die meisten heute in Deutschland bekannten Varianten des Wing Chun gehen auf den Kampfkünstler Yip Man (1893-1972) zurück. Er hatte im Laufe seines Lebens in Hong Kong zahlreiche Schüler (u.a. Bruce Lee). Als Yip Man im Alter von 77 Jahren starb, ohne einen Nachfolger zu benennen, begann ein Streit um seine Nachfolge.
Yip Man soll Wing Chun nicht von einem einzigen Meister, sondern von zweien erlernt haben. Der eine Lehrer soll ein Geldwechsler (Chan Wah Shun) gewesen sein, der andere war Leung Bik, Sohn des legendären Leung Jan, eines bekannten Kräuterarztes und Apothekers aus Foshan in der Provinz Guangdong. Diese Geschichte ist allerdings umstritten. Leung Bik ist selbst den Schülern von Yip Man nicht bekannt. Die Figur wurde vermutlich von einem Reporter in Hong Kong erfunden.
5. Kritik am Verbandswesen
Anders als bei vielen Sportarten gibt es beim Wing Chun nicht einen Dachverband, sondern zahlreiche konkurrierende Verbände und Schulen. Bei den meisten sogenannten Verbänden handelt es sich dabei nicht um unabhängige Vereine, die sich freiwillig zu einem Verband zusammengeschlossen haben, sondern um kommerzielle, hierarchische Organisationen, in denen die Schulen der Schüler des Verbandsgründers eingegliedert sind und die von diesem autorisiert und zertifiziert werden. Manche der Verbände sind in einem Franchise-System organisiert. Die Selbstdarstellung und interne Struktur einiger Verbände gerät dabei immer wieder in Kritik.
Ein weiterer häufiger Kritikpunkt ist, dass das Training in vielen Schulen möglichst massentauglich gehalten wird, andererseits aber dem Anfänger teilweise eine vollkommen falsche Vorstellung vom eigenen Potential und der Kampfkunst vermittelt wird. Darüberhinaus werden in manchen Verbänden - in Anlehnung an das früher übliche Familiensystem - Gehorsam und Verpflichtungen gegenüber dem Lehrer ("Sifu") hervorgehoben, obwohl dieser an der Ausbildung seiner Schüler kaum mehr beteiligt ist.
Aufgrund dieser Merkmal werden manche Verbände im Kampfkunstumfeld als McDojo bezeichnet.
In vielen Verbänden werden neben der Kampfkunst Wing Chun auch noch weitere Inhalte vermittelt. Besonders häufig werden in den Verbänden die philippinische Kampfkunst Eskrima oder eigene Neuentwicklungen und Kombinationen mit anderen Kampfkünsten unterrichtet. Bisweilen haben die Verbände auch philosophische, medizinische und esoterische Sparten.
6. Formen
Die ersten Grundlagen des Wing Chun werden in den Formen erlernt und geübt. Formen sind festgelegte Abfolgen von Techniken, die jeder Schüler alleine durchführt. Die Formen in den chinesischen Kampfkünsten entsprechen ungefähr dem, was in den japanischen Kampfkünsten als Kata bekannt ist. Die verschiedenen Formen des Wing Chun bauen aufeinander auf.
Die Formen sind:
- Siu Nim Tao / Siu Lim Tao („eine kleine Idee“) – Es werden die grundlegendsten Armtechniken isoliert für sich oder in einfachen Kombinationen geübt. Beintechniken kommen hier in Form des stabilen Stands vor. Ein wichtiger Aspekt dieser Form ist die Haltung und das Verhältnis von Spannung und Entspannung.
- Chum Kiu / Cham Kiu („Suchende Arme“ / „eine Brücke bauen“) – Basistechniken mit ersten Fußtechniken. Hier werden verschiedene Techniken in Kombinationen geübt, insbesondere das Zusammenspiel von beiden Armen, Beintechniken, sowie Schritttechniken.
- Bju Tse / Biu Tze („Stoßende Finger“) – Bisweilen als Notfall-Form bezeichnet, in der Techniken erlernt werden, um aus ungünstigen Kampfpositionen in aussichtsreiche zurückzugelangen.
- Mok Jan Chong / Mok Jan Jong („Holzpuppe“) – Dient als Ersatz für einen Trainingspartner und zum intensitätsorientierten Training. Bewegungen werden hier einstudiert und Fehler beseitigt.
- Luk Dim Bun Guan / Luk Dim Ban Kwun („Langstock“) – Sinn ist hier unter anderem, die Hüfte zu stabilisieren und Fauststöße hart zu machen.
- Pa Cham Dao / Bart Cham Dao („Doppelkurzschwerter“, „Doppelmesser“ oder „Schmetterlingsmesser“)
Der Ablauf der Formen ist seit Jahrhunderten überliefert. Yip Man und Wong Shun Leung erarbeiteten eine systematische Lehrmethode der Formen. In der Entwicklungsgeschichte des Wing Chun haben viele Lehrer immer wieder Weiterentwicklungen und Änderungen im Detail und im gesamten Ablauf eingeführt. In den verschiedenen Stilvarianten des Wing Chun existieren deshalb recht unterschiedliche Varianten der Formen. Diese Unterschiede spiegeln natürlich auch unterschiedliches Verständnis und Interpretation der Techniken und Prinzipien wider.
Auch heute noch werden zuweilen Änderungen in der Ausführung eingeführt, was mit der Lebendigkeit der Kampfkunst erklärbar ist. Hierzu gibt es Meinungsverschiedenheiten bei den Anhängern verschiedener Stilrichtungen. Fast jede Schule variiert zumindest die Siu Nim Tao minimal. Insider können an Details der Ausführung erkennen, bei wem der Schüler gelernt hat.
7. Unterricht und Training
Der Unterricht im Wing Chun ist von Partnerübungen dominiert, bei dem die Trainingspartner bestimmte Bewegungsmuster eines Kampfes wiederholen. Je nach Erfahrung der Übenden variiert dabei Geschwindigkeit, Intensität wie auch Komplexität der Übungen bis hin zum Freikampf/Sparring. Ziel dieser Übungen ist es, den Lernenden durch langsame und sich oft wiederholende Bewegungsabläufe bestimmte Bewegungsmuster einzuschleifen, die im Ernstfall unbewusst abgerufen werden können. Einen Schwerpunkt legt das Wing Chun auf das sog. Chi Sao, ein Gefühlstraining, welches ermöglicht, auf bestimmte Berührungen und Impulse eines Trainingspartners oder Gegners sehr schnell und reflexartig zu reagieren. Obwohl die Grundlagen des Wing Chun schnell erlernbar sind, erfordert gerade dieses Gefühlstraining jahrelange Übung, damit es sinnvoll in einem Kampf zum Einsatz kommen kann. Somit ist die schnelle Erlernbarkeit des gesamten Systems nur bedingt korrekt.